Endlich ein Roman, der sich zeitgenössisch nennen kann

Irgendwie ist es schwierig, ein Buch zu besprechen, ohne Wichtiges vorwegzunehmen. So viel soll gesagt sein: Wenn dieses Buch eine Mahlzeit wäre, machte es beim Essen auf alle Fälle großen Hunger und ließe eine_n eilig schlingen. Die Seiten machen eine_n süchtig wie zu viel Zucker. Zurück bleibt ein wenig Bauchweh, aber auch ein Zucken um die Wundwinkel und eine Denkfalte auf der Stirn. (Hier hinkt der Vergleich mit dem Essen leider etwas, die Denkfalte bleibt bei mir nach dem Essen meistens eher aus.)

Die Geschichte beginnt mit einer von der Polizei überbrachten Nachricht an die Protagonistin Nasrin: ihre Schwester Nushin ist tot. Autounfall sagen die Beamten – Nas(rin) ist aber überzeugt, dass es Selbstmord war. Die beiden Schwestern haben einiges gemeinsam überstanden, ihre Schwesternschaft könnte wohl nicht enger sein. Das lässt TAZ-Autor_in Yaghoobifarah uns Leser_innen durch Flashbacks zu Momenten aus ihrer Kindheit in Teheran, durch Erinnerungen an die Migration nach Deutschland, den schmerzenden Verlust des Vaters und das genaue Zeichnen eines Heranwachsens in einer Welt, in welcher man sich immer irgendwie „anders“ fühlt, durchleben. Auch durch Träume und Monolog-artige Gedankenstränge erfahren wir viel über Nasrins Vita und ihr wüstes Inneres. Auf der Suche nach den Gründen für den Tod ihrer Schwester lernen wir die verschiedenen Rollen Nasrins kennen: die Härte und den Kneipenalltag der queeren Türsteherin eines Berliner Clubs, den empörten und gleichzeitig verängstigten Teenager, der vor dem Hintergrund der Anschläge in Rostock, Mölln und Hoyerswerda die Umgebung, in der sie aufwächst, als eine feindselige wahrnimmt und die trauernde, sehr gefühlvolle Schwester. Wir lernen ihre Methoden mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen kennen. Ihre Träume. Und ihre Traumata. Dass sie von nun an für ihre Nichte verantwortlich ist, macht sie zudem zur ratlosen Tante, die sich auf spießigen Elternabenden wiederfindet. Auf den knapp 400 Seiten stellt sie sich peu à peu ihrer Vergangenheit.

Durch treffende Beobachtungen, immer mit einem Diss unterlegt, kritisiert Hengameh Yaghoobifarah die weiße Mehrheitsgesellschaft. Durch den kolumnenartigen Stil und die vielen Internet-Anglizismen trifft they genau die Sprache der Zeit. An dieser Stelle sollte gesagt sein, dass viele Themen wie sexueller Missbrauch, Rassismuserfahrungen und Gewalt, die Unterschiedliches triggern können, angesprochen werden, aber Yaghoobifarah tut dies stets ohne explizite Beschreibungen und schafft dieses beklemmende Gefühl eher durch Auslassungen.

Wir alle können uns die alptraumhafte Realität vorstellen, wenn they die unterlassene Hilfestellung der Polizeibeamten subtil schildert: „Einer von ihnen bemerkte uns, wir schauten uns kurz in die Augen, ich formte mit meinem Mund das Wort „Hilfe“. Für fünf weitere Sekunden guckt er mich an, dann drehte er sich zur Seite als wäre nichts auffällig an einer Gruppe Ausländern, die von fünf Glatzköpfen in eine dunkle Ecke gedrängt wurde.“

Es ist nicht die Handlung, die mich gecatched hat, sondern die Zeichnung der Figuren und das sprachliche Haus, das sie so genau mit ihren Wörtern baut. So beschreibt sie viele alltägliche Situationen. Diese jedoch haben es in sich und sind nie trivial oder gar langweilig, sondern durch bildreiche Sprache auf den Punkt gebracht und mit den Formulierungen ins Schwarze getroffen. Durch einzelne Songpassagen, die der Protagonistin immer wieder in den Kopf schießen, hat man beim Lesen sogar Melodien im Ohr. (Für alle, die keinen Bezug zu den Titeln haben: Es gibt auch eine Spotify Playlist!)

Das Buch besitzt eine enorme Kraft. Er handelt von Frauen, die mit anderen Frauen reden, sich unterstützen aber auch abfucken, sich lieben und füreinander da sind. Durch den Pöbelmodus und die Beschreibkunst them (?) Autor_in werden die dunklen Ecken der deutschen Gegenwart beleuchtet; wichtige gesellschaftspolitische Themen wie (Wahl-)Familie, Gewalt, Migration und Rassismus werden in eine packende Geschichte eingebettet. Somit ist dieser Roman ein Politikum, ein enorm witziges Politikum!

Hallo Hengameh,

Ich bin deutsch. Urdeutsch. Klischee-deutsch? Identifiziere mich als Frau, falle wohl nicht weiter auf mit meinem Aussehen. Mobbing aus der Schule kenne ich trotzdem. Einsamkeit kenne ich auch. Dennoch eröffnete die Sicht auf die Dinge aus der Perspektive deiner Protagonistin ein Stück neue Welt für mich. Danke für diesen Einblick. Danke, dass ich meine Sicht erweitern darf. Manchmal war es mir auch irgendwie too much, aber ich habe so gelacht, kam ins Grübeln und doch konnte auch ich mir oft denken: ja voll. Wie würde die Generation meiner Eltern diesen Roman wohl lesen?

Liebe Grüße,
eine Leserin