Szene 1: „Die Investorenfirma beweist Herz“ 

Kurz vor Weihnachten 2019 werden in einer öffentlichkeitswirksamen Geste, begleitet von Social Media Postings, ein Gabenzaun eröffnet. Dieser befindet sich am Bauzaun, der die (ehemalige) Freitreppe am Franz-Josefs-Bahnhof absperrt.

Szenerie: Die Frau des Bürger_innenbeteiligungsbüros rückt die Mützen und Schals am Zaun zurecht. Ein Fotograf der Immobilienfirma wartet etwas abseits auf einen guten Moment. Ein nicht weißes Paar mit Kinderwagen spaziert am Zaun vorbei und betrachtet die Gaben. Klick, Klick, das Bild ist im Kasten. Die gewünschte Erzählung ist vermittelt. Wärme, Gemeinschaft. „Pflück dir Wärme“. Danke und ein frohes Fest wünscht 6B47. Immobilienfirma der Herzen.

Szene 2: „Der Gabenzaun“

Im Mai 2020 hat die Pandemie Österreich bereits fest im Griff. Das bisherige Sozialleben vieler Menschen ist zum Erliegen gekommen. Viele haben ihren Job verloren, Sozialmärkte melden neue Höchstzahlen an Personen, die bedürftig sind. Unsicherheit darüber, wie die nächste Miete gezahlt werden soll, was die Zukunft bringt und wie eins die Windeln für die Kinder finanzieren soll, sind für viele der neue Alltag.

Szenerie: Aktivist_innen hängen eine Tafel an den leeren Zaun vor der ebenfalls leeren Treppe.

Auf der Tafel steht „GABENZAUN – wer hat, der gibt, wer braucht, der nimmt“. Die Aktivist_innen unterhalten sich angeregt während sie Dinge an den Zaun hängen. Worin sie sich einig sind ist – nur mit dem Gemeinsamen geht es in dieser Krise weiter. Dadurch, dass solidarische Nachbarschaftsnetze gespannt werden. Dadurch, dass sich die, die sich keine Windeln leisten können, welche nehmen können. Dass wir in einer Welt leben, in der eigentlich niemand hungern müsste.

Eine Reporterin der Bezirkszeitung interviewt eine der Anwesenden, warum sie den Zaun aufbauen: „Die wachsende Armut ist auch in Wien spürbar. Die Corona-Pandemie hat die Situation noch weiter verschärft”, antwortet die bei Links aktive Himali Pathirana.

Szene 3: „Die etwas andere Art“

Der Gabenzaun wird weiter betreut. In regelmäßigen Abständen kommen Aktivist_innen der Bezirksgruppe von Links, aber auch andere Anrainer_innen vorbei, bringen Infomaterial mit, welches über Support in der Krise informiert, hinterlegen Hygienemittel und Grundnahrungsmittel. Diese werden regelmäßig entnommen, für viele ist das kostenfreie Angebot eine praktische Hilfe in dieser schwierigen Zeit. Über dem Sommer und bis Anfang September bietet der Zaun vor der leeren Stiege einen Anlaufpunkt für direkte und praktische Solidarität.

Szenerie: Ein Bauarbeiter ist am Telefon und telefoniert mit seinem Vorgesetzten. Einige Worte des Telefonates dringen an die Vorbeigehenden durch: „Aber der Zaun ist nicht leer, sollen wir das wirklich alles runterreißen?“. Die Anordnung der Immobilienfirma ist klar. Alles soll weg. Die Arbeiter_innen entfernen die Infoschilder, die Lebensmittel und Hygieneprodukte. Die Bauarbeiter_innen haben kein gutes Gefühl dabei, einfach alles wegzuwerfen und legen die noch nutzbaren Dinge auf eine Bank in der Nähe des Zaunes. Anstelle des Gabenzauns sind nun Werbebanner vor der leeren Treppe. Auf ihnen ist zu lesen:

6B47 Real Estate Investors AG

„die etwas andere Art Immobilien zu entwickeln“